Liebe Schweinehundeprofis,
seit Wochen schon läuft nun die Hatz-IV-Debatte. (Liebe Österreicher und Schweizer, „Hartz IV“ ist bei uns in Deutschland die zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Man kriegt sie, wenn man länger als 18 Monate arbeitslos ist.) Und immer noch hat man den Eindruck, dass dabei zwei ideologisch verpeilte Fraktionen aufeinander einkloppen („Lauter Sozialschmarotzer!“
versus „Chancenlose Gesellschaftsopfer!“). Die Gretchenfrage: Ist es gerecht, mit Hartz IV ein fast ähnliches Einkommen zu beziehen wie viele regulär Arbeitenden? Typisch deutsch: Gerechtigkeit – der Wert aller Werte. Doch was ist das eigentlich, „gerecht“?
Was ist Gerechtigkeit?
Ja, schon klar: Unsere Gesellschaft soll gerecht sein. Aber es drängen sich mindestens zwei Definitionen für Gerechtigkeit auf: die Verteilungs- und die Leistungsgerechtigkeit. Laut ersterer ist unsere Gesellschaft dann gerecht, wenn allen gleiche Chancen und Mittel zu Verfügung stehen. Die zweitere besagt: Gerecht ist, wenn Leistung belohnt wird. Und wer hat nun Recht? Beide.
Natürlich ist es erstrebenswert, Startvoraussetzungen anzugleichen und Schwächen abzumildern. Natürlich sollen und wollen wir in unserer Gesellschaft solidarisch sein mit denen, die es schwerer haben. Das ist eine der größten kulturellen Leistungen, die wir je zustande gebracht haben! Zum Beispiel freue ich mich bei jedem USA-Aufenthalt über unser deutsches Sozialsystem: Es kappt zwar mitunter die Spitzen, aber gleicht auch die tiefen Täler aus. Was man woanders auf der Straße sieht, will ich bei uns nicht erleben. Danke, liebe Verteilungsgerechtigkeit!
Doch selbst wenn Menschen gleiche Startbedingungen haben, gestalten die einen ihr Leben und mehren Glück, Geld und Gelegenheiten, während es anderen oft durch die Finger rinnt. Warum? Weil manche einfach das Falsche tun – obwohl ihr Umfeld “eigentlich“ eine Menge ermöglicht. Ob die Startvoraussetzungen also doch nicht der alleinige Erfolgsfaktor sind? Logisch: Unsere eigenen Handlungen sind mindestens genauso wichtig. Und unsere Bereitschaft zur Selbstverantwortung: Was wollen wir aus unser em Leben machen? Wie unseren persönlichen Einflussbereich nutzen?
Es wird klar: Wer selbst zu wenig zum eigenen Erfolg beiträgt, obwohl er könnte, verwirkt den Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit. Denn die würde nun ungerecht. Stattdessen gilt die Leistungsgerechtigkeit: Wer im Leben Chancen ergreift und dabei Mühe, Planung, Risiko und Ausdauer auf sich nimmt, der soll dafür auch mehr Ernte einfahren. Wobei die Solidarität mit den „Schwachen“ Grenzen kriegt: Wer Zeit passiv verstreichen lässt, hat keinen Anspruch auf die Gewinne der zwischenzeitlich Produktiven. Sonst würde Schwäche leicht zur Maske, hinter der sich Bequemlichkeit, (Denk)faulheit und Unvermögen verstecken können. Wie soll man sich dann noch guten Gewissens um die wirklich Schwachen kümmern? Nein, nun wird das Ungleichgewicht gerecht. Denn: Wer will , bekommt bei uns seine Chance. Danke, liebe Leistungsgerechtigkeit!
Vorsicht, Polemik!
Doch statt erst mal „Gerechtigkeit“ zu definieren, diskutiert man allgemein darüber, wie viel Geld „gerechtfertigt“ ist. Überall sehen wir Tabellen mit Verdienstvergleichen. Und es wird volle Kanne polemisiert: „Die sollen kalt duschen!“ heißt es auf der einen, „Vorsicht vor sozialer Kälte!“ auf der anderen Seite. Dabei ist ohnehin jedem klar: Es gibt sie beide – die einen, denen Druck und Richtung gut täte, um aus dem Quark zu kommen, und die anderen, die loyale Unterstützung brauchen statt Druck und erhobenem Zeigefinger. Und zwischen Schwarz und Weiß finden sich etliche Graustufen, deren Entwicklung wir als Gesellschaft mit beeinflussen können.
Zugegeben: Auch ich lese gerne die Interviews von Thilo Sarazzin. Und auch ich klopfe mir dabei mitunter lachend auf die Schenkel: Erfrischender Klartext, bissiger Humor, prima. Herr Westerwelle wirkt dagegen ja richtig verkniffen! Aber ich weiß auch, dass Provokationen Diskussionen bestenfalls anstoßen – auf der sachlichen Ebene Probleme lösen können sie nicht. Arbeit schaffen auch nicht. Und damit weiter zur nächsten unklaren Größe der Debatte: zum Begriff „Arbeit“. Denn wie heißt es immer so schön? „Arbeit soll sich lohnen.“ Klingt gut. Nur: Welche Arbeit eigentlich?
Was ist eigentlich Arbeit?
Momentan könnte man den Eindruck gewinnen, „Arb eit haben“ sei eine rein finanzielle Größe. Wer eine hat, verdient damit Geld. Mehr nicht. Dass Arbeit etwas Sinnstiftendes ist, befriedigen kann, Zugehörigkeit und Selbstvertrauen schafft, geht leider meist unter. Kosten-Nutzen-Rechnungen beherrschen die täglichen Talkshows: Wie viel ist zu kriegen für welchen Aufwand? Dabei versteht man unter „Arbeit haben“ freilich meist sozialversicherungspflichtige Jobs. Die, für die man sich bewerben muss. Und an die BfA abführen. Bei denen man einen Chef hat, der einem sagt, wo es langgeht. Die „guten alten“ sicheren Anstellungsverhältnisse eben.
Was dabei aber unter den Tisch fällt, ist der Begriff der Produktivität. Also welchen Nutzen, Output, Mehrwert schafft eine Arbeit eigentlich? Ist sie sinnvoll? Hilft sie unserer Gesellschaft? Bedient sie einen Markt? Will sie jemand wirkli ch haben? Und schon bemerkt man eine Lücke in der Logik! Auf der einen Seite gibt es genug zu tun bei uns – und das müssen nicht zwangsläufig Tätigkeiten in sozialversicherungspflichtigen Jobs sein: Wir brauchen Menschen, die schlechten Schülern Nachhilfe geben, Schlaglöcher teeren oder die sich um die steigende Zahl Alter und Kranker kümmern. Dafür brauchen wir wirklich alle, die mithelfen können – ungeachtet ihrer Vorbildung, Ansprüche oder ihrem Wunsch nach Verteilungsgerechtigkeit. Auf der anderen Seite aber schreit das kranke Sozialsystem nach Nahrung, denn es speist sich vor allem durch die sozialversicherungspflichtigen Jobs – wie ein Kranker, der an einem leer gesaugten Tropf hängt.
Nichts Neues, oder? Wir wissen doch längst, dass das „gute alte“ Anstellungsverhältnis ein Auslaufmodell ist! Die Märkte ticken nicht mehr wie früher. Persönl iche Entrepreneurship ist angesagt – jeder wird zum Unternehmer in seinem eigenen Leben. Die heutige (und erst Recht die morgige!) Wissensgesellschaft führt unabhängige Leistungsträger projektbezogen zusammen. Meist ohne feste (sozialversicherungspflichtige) Anstellung. Doch was heißt das? Dass es keine „Arbeit“ gibt? Mitnichten: Arbeit gibt es wie Sand am Meer! Aber irgendwo hakt es beim Anpacken der Arbeit. Nur wo?
Die wahren Gründe für „Arbeitslosigkeit“
Welche Gründe also gibt es für unsere hohe „Arbeitslosigkeit“, wo es doch so viel zu arbeiten gäbe? Die einen werden jetzt sagen: „Klare Sache: Die haben alle doch gar keinen Anreiz zum Arbeiten! Viel zu viel Geld kriegen sie vom System! Man muss also den Druck erhöhen, anders geht es nicht!“ Und we r nicht mitzieht, kriegt auf die Finger – und zwar das ganze System der Hartz-IV-Familie. Von der Pflicht, Jobs anzunehmen bis zur Pflicht, sich zu bilden. Herr Sarrazin hat es vor kurzem wieder süffisant übersteigert: „Zweimal keine Hausaufgaben gemacht, 50 Prozent weniger Kindergeld. Was meinen Sie, was auf einmal die Hausaufgaben gemacht werden.“
Also alles nur faule Säcke? Zum Teil sicher keine unberechtigte Annahme. Auch ich kann mich an etliche TV-Drehs in Hartz-IV-Familien erinnern, in denen ein seltsames Wertebild herrschte: Während man oft auf den Cent genau wusste, welche Ansprüche man beim Amt geltend machen konnte, gerieten die eigenen Pflichten oft aus dem Blick. Sich bewegen? Sich bemühen? Sich strukturieren? Unbekannte Größen. Die Kinder fördern und fordern? Unmöglich mit dem bisschen Geld – weiß doch jeder. Dass aber gerade in Hartz-IV-Familien regelmäßig die größten Flachbildschirm-Fernseher im Wohnzimmer standen, fand ich dann doch bemerkenswert …
Dennoch glaube ich insgesamt nicht an Faulheit als Ursache Nummer eins. Vielmehr stecken dahinter oft mangelnde Kompetenzen und zu wenig Selbstvertrauen. Dass das Selbstvertrauen leidet, wenn man zu lange auf dem Abstellgleis steht, ist ja allgemein bekannt. Wo soll man sich auch Erfolgserlebnisse holen? Das ist einer der Gründe, warum es viel wichtiger ist, überhaupt eine Arbeit zu haben, als ewig nach der passenden zu suchen. Im Ernst: Ich habe keine Ahnung, wie man drauf sein muss, wenn man nach einem Jobverslust monate- oder jahrelange Arbeitslosigkeit akzeptiert! Hier wird jedes bisschen Bequemlichkeit mit der Zeit zur reinen Selbstzerstörung.
Nicht wissen, wie es geht – vor allem im Business
Der Kompetenzmangel hingegen zieht sich oft querbeet durch alle Lebensbereiche: Selbstorganisation, Umgangsformen, Allgemeinbildung, Business-Skills – gerade deswegen ist ja Bildung so wichtig! In der Summe bestimmt das, was man sich in die Birne tut, was wieder rauskommen kann. Und wenn zu wenig oder vorwiegend Müll reinkommt, brauchen wir uns über fehlende Qualifikationen nicht zu wundern. Stattdessen müssen wir investieren ohne Ende: in Schulen, Kindergärten, Ganztagesbetreuung, Spielplätze, Sportstätten, Vereine, Unis, Sozialarbeit, Integrationsprogramme und so weiter! Wissen wir alle. Doch wofür fließen die Milliarden? Für Schweinegrippeimpfstoffe, Bankenkrise und Autoindustrie. Ich habe den Verdacht, die Hartz-IV-Polemiker beschimpfen die Falschen …
Oder nehmen wir mal unsere Business-Fähigkeiten. Ganz ehrlich: Wie steht es denn um unsere kollektiven unternehmerischen Kenntnisse? Ich habe oft den Eindruck, unternehmerisches Denken und Handeln sind bei uns tabu. Lieber folgen wir immer noch „denen da oben“. Kein Wunder: Schließlich bringt uns auch keiner bei, wie man ein Geschäft macht. In Schule und Ausbildung sind jedenfalls andere Dinge gefragt. Wie sonst lässt sich erklären, dass intelligente Menschen zwar alle möglichen Kurvendiskussionen lernen sollen, ihnen aber später der Bank-, Versicherungs- oder Schuldenberater die Basics im Umgang mit Geld beibringen muss? Wieso nur hat Schulerfolg so herzlich wenig mit Lebenserfolg zu tun? Weil es nicht alleine auf Bildung ankommt, sondern auch auf die richtige Bildung! Auf praktis che Bildung. Auf nützliche. Und in unserer Gesellschaft zunehmend auf unternehmerische. Es kann doch nicht sein, dass wir unter „Arbeit“ sozialversicherungspflichtige Festanstellungen verstehen, während „Arbeit“ aus unternehmerischer Sicht eigentlich nur „Aufgaben“ sind, die für irgendjemand zu lösen sind: Bedarf eben. Markt. Nutzen. Der sichere Job ist vielleicht ein wünschenswerter Endzustand, aber nicht die eigentliche Zielgröße.
Aufgaben gibt es ohne Ende!
Dabei herrscht keinerlei Aufgabenmangel! Nehmen wir mal die Dienstleistungen: Fast jeder hat doch schon Ideen gehabt, womit er sich da selbständig machen könnte! Von der Stilberatung, über persönliche Assistenz bis zum Hunde-Sitting – Ideen gibt es en masse. Oder wer bringt Handwerkern guten Serv ice bei? Wer unterrichtet Frührentner im Online-Marketing, so dass sie von zuhause aus wieder durchstarten können? Wer hilft im Supermarkt, Tüten zu packen? Wer putzt in Einkaufszentren Passanten die Schuhe? Aufgaben überall! Wer will, kann von mir listenweise Geschäftsideen kriegen.
Vielleicht schrillt bei Ihnen jetzt gerade eine Alarmglocke: „Pfui, Minijobs für Geringqualifizierte! Wir wollen RICHTIGE Arbeit mit Mindestlohngarantie!“ Und schon hätten wir mit unserer Festanstellungsmentalität wieder ein paar Existenzgründungen platt gemacht … Denn: Wer sagt denn, dass man überhaupt eine Festanstellung braucht, in der nur ein poplig kleiner Stundenlohn übrig bleibt? Warum nicht schlau sein und gleich das eigene Business aufmachen? Warum denn nicht als Hundesitter, Tütenpacker, Schuhpfleger? Ich bin davon überzeugt, dass Mindestlohnforderungen den Bedarf unserer Gesellschaft nach Niedriglohnjobs konterkarieren. Wobei die „kleinen“ Jobs nicht einmal „kleine“ Gehälter bedeuten müssen, wenn man sie schlau angeht. Doch was schlau wäre, verbirgt sich wieder hinter Fachkenntnissen, die in Schule und Ausbildung „vergessen“ werden: Marketing, Verkaufsfähigkeiten, Umgang mit Geld. Angewandtes Know-how ist es, das erfolgreich macht. Nicht sozialer Druck.
Ich bin mir sicher: Unsere oft systematisch anerzogene Hilflosigkeit und unsere lebensfremde Sicherheitsorientierung verhindern etliche gute Ideen und Dienstleistungen! Sie töten Produktivität und führen genau damit in eine unsichere Zukunft. Anders kann ich mir auch nicht erklären, dass mir ständig intelligente und gut ausgebildete Menschen erzählen, dass sie lieber Stütze beziehen oder von unbezahltem Praktikum zu Praktikum hüpfen, anstatt e infach ihr Ding zu machen. Die Begründungen klingen stets ähnlich: „Ich weiß nicht, wie man Rechnungen schreibt!“, „Keine Ahnung, wie das mit der Steuer geht!“, „Aber wie komme ich an Kunden?“ und so weiter. Im Kopf alles okay. Oft super qualifiziert. Aber in der Praxis zwei linke Hände. Also schnell aufs Amt …
Wir brauchen eine Wertedebatte
Sie sehen: Die Faulheit alleine ist es sicher nicht – so schön einfach sie als Erklärung auch klingt. Dennoch darf es natürlich nicht tabu sein, in einer solidarischen Gesellschaft von Solidaritätsempfängern Solidarität zu fordern. In diesem Sinne also: Danke, Herr Westerwelle! Danke, Herr Sarrazin! Die Aufmerksamkeit haben Sie geschaffen – wenn auch mit zweifelhaften Mitteln. Wir brauchen jede helfende Hand. Wenn es sein muss auch zu vollen Bezügen – kriegen sie ja sowieso … Jetzt aber müssen wir ehrlich zu reden beginnen! Ohne Polemik und Spalterei. Denn die Ursachen sind zu komplex für ausgestreckte Zeigefinger.
Stattdessen muss endlich eine Wertedebatte starten: Was braucht unsere Gesellschaft? Was wollen wir als Arbeit anerkennen? Was wem zumuten? Wen „mit vollen Bezügen“ in Ruhe lassen? Meinetwegen können vom Sozialsystem Gestützte gerne „nur ein bisschen“ Nachhilfe geben oder mal den Stadtpark säubern und damit (fast) genauso viel verdienen, wie „richtig“ Arbeitende. Besser als nichts zu tun, ist es allemal. Für uns alle. Den Begriff „Arbeit“ als Gegenpol zur „Freizeit“ zu verstehen, ist ohnehin eines der größten heutigen Missverständnisse. Denn produktive Arbeit ist sinnvoll genutzte Lebenszeit. Unproduktive Frei zeit aber schnell sinnlose Leere. Außerdem: Einer der wichtigsten „Jobs“ überhaupt findet scheinbar gänzlich außerhalb unseres Wirtschaftssystems statt: Kinder zu bekommen und großzuziehen! Was kann es Wichtigeres geben? Meinetwegen soll man gerade Mütter mit Gold überschütten. Das kommt uns am Ende sowieso allen zugute.
Wovon wir uns sicher weiter werden verabschieden müssen, ist der staatliche Anspruch auf „gute“ Bezahlung ohne eigene Verpflichtung. Die Schwachen können auf Dauer nicht beschützt werden, wenn die Starken dabei draufgehen. Wir werden erkennen müssen, dass produktiv wirklich alles ist, was wir als Gesellschaft brauchen. Und weil sich das ständig verändert, liegt die eigentliche Produktivität in unserer Veränderungsbereitschaft. In unserer Fähigkeit, sich immer neuen Anforderun gen zu stellen, anstatt alte Ansprüche zu verwalten. So wie das jeder gute Unternehmer tut. So wie es in der Natur üblich ist: Was will der Markt? Wo ist das Futter? Verändert sich die Umwelt und man setzt sich schmollend wie ein Kind auf den Boden, wird es gefährlich. Da wird man schnell mal von der Realität gefressen.
Was wir noch tun können
Also: Was können wir tun? Eine neue Kultur gesellschaftlicher Verantwortung schaffen! Denn wir sitzen alle im selben Boot. Und dabei werden wir uns auch weiterhin bewegen müssen: in unseren Ansprüchen, Wohnorten, Tätigkeiten, Ausbildungen. Das wird immer so bleiben. Seien wir endlich ehrlich, heben wir den Kopf und sehen den Tatsachen ins Auge! (Und liebe Politiker: Eure Verantwortung liegt darin, endlich auf die großen Zusammenhänge hinzuweisen, statt wie kleine Kinder in der Gegenpartei nach Schuldigen zu suchen.)
Außerdem: Hören wir mit dem Jammern auf! Selbst wenn wir „betroffen“ sind von Hartz IV oder heftigen Arbeitsbedingungen. Wir haben das fast unverschämte Glück, in einem der reichsten Länder der Erde zu leben. Danke dafür! (Und falls Sie nun denken „Der hat gut Reden mit seinen hohen Tagessätzen!“, will ich kurz anmerken, dass auch ich mich an eine lange Zeit während Studium und danach erinnern kann, in der ich im Discounter die Pfennigbeträge verglichen habe, um über die Runden zu kommen …) Wer aber jammert, beginnt eine Spirale im Negativdenken – und zieht nicht nur sich selbst nach unten sondern auch andere. Und irgendwann heißt es dann: „Das geht nicht! Das schaffst du nicht! Das ist viel zu schwer!“ So wie es in entsprechenden „Milieus“ längst subjektive Wirklichkeit ist. Denn: Was übrig bleibt, ist nun eine traurige Form von Hartz IV-Hospitalismus – verlorene Menschen ohne Zukunft. Ohne das Gefühl, selbst etwas tun zu können. Aber genau dagegen müssen wir alle ankämpfen: gegen das Gefühl „Es bringt sowieso nichts!“ Akzeptieren wir niemals unsere eigene Hilflosigkeit oder die anderer! Denn nur wer nicht kämpft, hat verloren.
Weiter: Machen wir einander Mut, statt uns mit Vorwürfen zu traktieren! Konzentrieren wir uns dabei auf unsere Stärken und Möglichkeiten, statt auf Schwächen und Risiken! Es weiß sowieso jeder, dass die Natur nicht gerecht ist. Warum darüber schimpfen? Machen wir lieber das Beste aus dem, was uns zur Verfügung steht! Wo ist unser persönlicher Einflussbereich? Was können wir, was andere brauchen? Und los geht’s! Wird schon klappen. Schaffen wir eine Kultur des unternehmerischen Möglichkeitendenkens! Eine mutige, unterstützende.
Dafür: Suchen wir uns ein Umfeld, das uns voranbringt, statt uns zu behindern! Suchen wir die Gesellschaft unterstützender positiver Menschen und nützlicher Gedanken! Das beginnt schon in der Schule. Wir brauchen schlauere Schulfächer. Solche wie Kommunikation, Wirtschaft, Selbstorganisation, Umgang mit Geld, Unternehmerschaft, Glück, Lernen und so weiter. Fächer, die Menschen Schlüsselqualifikationen für ihr Leben vermitteln, statt auf Festanstellung und Stütze vorzubereiten. Das Ziel jedes guten Umfeldes sollte die eigene Befähigung sein. Und somit die Individualisierung von Gerechtigkeit – jeder soll tun können, was er kann.
Seien wir auch ehrlich mit denen, die durchs Raster fallen: Wer nicht mehr vermittelbar ist, ist dennoch wertvoll für alle – und sei es, weil er gemeinnützige Aufgaben anpacken kann. In welcher Form diese Arbeit auch immer organisiert ist: als Ein-Euro-Job, Ehrenamt oder was auch immer. Besser als nichts zu tun, ist sie allemal.
Also: Schmarotzer hin, soziale Kälte her. Dass derzeit ein gesellschaftlich relevantes Thema angefasst wird, spürt man. Die Frage ist: Liebes Deutschland, wie ehrlich willst du sein?
Einen produktiven März wünscht
Ihr
Stefan Frädrich
Vielen Dank für diese Zeilen!
Ihnen geht es offenbar ziemlich gut und diesen Zustand will Ihnen auch niemand nehmen. Aber warum sind Sie nicht einfach zufrieden damit? Warum klopfen Sie sich „mitunter lachend auf die Schenkel“, wenn sich Thilo Sarazzin abfällig über Menschen äußert, denen es offensichtlich (warum auch immer) nicht ganz so blendend geht?
„Zweimal keine Hausaufgaben gemacht, 50 Prozent weniger Kindergeld. Was meinen Sie, was auf einmal die Hausaufgaben gemacht werden.“ – Das sind also die Art von „Witze“, über die Sie lachen?
Die Bundesrepubik Deutschland hat zurzeit ca. 5 Mio. Arbeitslose, die Sie mit Ihren tollen Geschäftsideen wie Tütenpacken im Supermarkt oder Schuheputzen wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse bringen möchten. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich in Deutschland (noch) keine Tütenpacker und Schuhputzer sehen muss. Ich gehe einer geregelten Arbeit nach und freue mich, dass ich einen (wenn vielleicht auch kleinen) Nutzen für die Gesellschaft erbringe, aber ich bin nicht neidisch auf „die größten Flachbildschirm-Fernseher im Wohnzimmer “ der Hartz-IV-Familien. Ich halte sozialen Frieden für ein hohes Gut und bin froh darüber, (noch) nicht die Altersarmen mit ihren verfaulten Zähnen wie in den Ghettos der USA sehen zu müssen. Ich wünsche Ihnen nicht, auch mal in eine Lage zu rutschen, um als Tütenpacker oder Schuhputzer arbeiten zu müssen, aber denken Sie vielleicht einmal darüber nach, wie schnell der Absturz bei Ihren „Kollegen“ Höller und Schäfer erfolgt ist.
Hallo Herr Schröter,
Vorsicht, bitte nichts missverstehen:
– Der Hausaufgabensatz von Sarazzin ist eine rhetorische Zuspitzung, die ich ziemlich treffend und witzig finde – u. a. WEIL sie nicht politisch korrekt ist, aber dennoch die schräge Gewichtung vom Wert „Bildung“ aufgreift, wie ich sie in entsprechenden Familien auch selbst schon oft erlebt habe.
– Es geht mir gerade NICHT um „reguläre“ Jobs, wie Sie schreiben, es geht mir um gesellschaftliche AUFGABEN, die in unserer oft blinden Fokussierung auf „reguläre Jobs“ übersehen werden. Und ja: Ich freue mich über Dienstleistungen wie Schuheputzen und Tütenpacken. Sie sind nämlich nützlich. Ebenso wie Nachhilfe, Nachbarschaftshilfe, tägliche Plauderbesuche bei der alleinstehenden Omi nebenan und etliche mehr. Alles keine „regulären“ Jobs, aber sinnvoll. Wie daraus „reguläre“ Jobs werden können, ist eine Frage vom Business-Know-how, die aber erst in zweiter Linie kommt. Nach dem Nutzen.
– Im übrigen finde ich Ihre beschützende Position im Kern ja höchst ehrenvoll. Wie Sie vielleicht gelesen haben, habe auch ich die USA als Negativbeispiel aufgeführt. Dennoch: Auch ich habe schon etliche Jobs gemacht, die nicht unbedingt das höchste Sozialprestige mit sich bringen: Ich habe als Zivi Kranke gepflegt, tatsächlich schon als Schüler Schlaglöcher geteert, in Eisenplatten im Akkord Löcher hineingebohrt und so weiter. Der Hinweis, dass es mir gut geht, ist insofern unnötig. Seien Sie sicher: Ich bin sehr dankbar für alles, was ich habe. Aber ich weiß auch, dass dahinter Arbeit steckt, deren Lohn meist nicht sofort, ja sogar oft erst später um ein paar Ecken herum kommt. Warum Sie also assoziativ sofort bei „Abstürzen“ sind, kann ich nur mutmaßen. Viele Menschen hindert genau diese Angst vor Abstürzen daran, mehr aus Ihrem Leben zu machen.
Hm, das ist ein schwieriges Thema.
Einerseits, Herr Frädrich, bin ich ganz genau der gleichen Meinung wie Sie. Trotzdem habe ich ein wenig Bauchschmerzen mit einer Frage:
Wie soll die Menschen mit den Menschen umgehen, die tatsächlich nicht arbeiten WOLLEN UND keine reiche Verwandtschaft haben?
Beispiel (vorsicht, mglw. überzeichnet): Dem Hartz IV-Empfänger, dessen Bruder den fetten Mercedes Benz fährt und mit dem er sichtbaren Kontakt hat, Hartz IV zu streichen, fände ich völlig in Ordnung. Vorausgesetzt, der HartzIV-Empfänger ist „arbeitsunwillig“, auch, was die von Ihnen so schön beispielhaften kleinen gemeinnützigen Jobs angeht.
Nur: Wie sollen/können wir mit den Menschen umgehen, die nicht arbeiten wollen, aber KEINEN haben, der sie auffängt? Die quasi ihren inneren Schweinehund nicht überwinden können? Denen Hartz IV streichen, hieße u. U., sie verhungern zu lassen? Oder setzt der Zugzwang einen derartigen Menschen in Bewegung? Damit habe ich ein moralisches Problem, da streiten sich bei mir der Wunsch nach sozialer Gemeinschaft und der nach Gerechtigkeit.
Ansonsten möchte ich mich Ihrer Meinung voll anschließen.
Hallo!
Habe auch den Ihren Newsletter gelesen,
zu der obigen politischen Diskussion möchte ich mich nicht äußern,
sondern nur darauf hinweisen, dass Hartz IV nicht nach 18 monatiger Arbeitslosigkeit gezahlt wird, sondern dass die Grundvoraussetzung ist, dass man mit seinem Einkommen seinen Bedarf (Bsp. Einzelperson: 359 € + je nach Stadt angemessene Miete) nicht decken kann.
Je nach Einkommen kann Hartz IV also aufstockend gezahlt werden.
Viele Grüße
Sehr geehrter Herr Frädrich,
Guido Westerwelle macht sich zum Sprecher einer sog. schweigenden Mehrheit. Diese Mehrheit schweigt vor allem deshalb, weil ihre Meinung auf Vorurteilen und scheinbar einfachen Lösungen beruht.
Deshalb ist es auch gut, dass diese Mehrheit schweigt. Dabei schweigt sie aber nicht wirklich. An Stammtischen und unter vorgehaltener Hand hetzt sie weiter gegen Arbeitslose, Ausländer, gegen Homosexuelle und gegen alles was nicht in ihre kleine enge, deutsche Welt passt.
Die BILD Zeitung ist ihre tägliche Lektüre und hat die Grenzen des Verstandes und damit der Toleranz festgelegt. Am Abend schaut man SAT1, RTL und Pro Sieben die nicht berichten, wie Steuerhinterzieher ihre Millionen nach Liechtenstein schaffen. Sie berichten nicht wie Handelsketten ihre Mitarbeiter bespitzeln, wie Zeitarbeitsfirmen Menschen ausbeuten. Dafür sitzen bezahlte, scheinbare Leistungsempfänger und erzählen zahnlos, dass sie nicht arbeiten wollen, weil Arbeit Sch…. sei. Sie zeigen nicht die Millionen, die trotz guter Qualifikation keine Arbeit finden können, weil sie durch ihre Ausbildung und ihr Alter nicht in das (Aus)Beuteschema von abzockenden Arbeitgebern passen. Diese Menschen könnten, wären sie denn öffentlich präsent, das existierende einfache Weltbild dieser schweigenden Mehrheit gefährden. Aber dieses Bild ist nicht nur nützlich sondern Notwendig um Mehrheiten für eine Politik zu finden, die ernsthaft eine Pflicht zur unbezahlten Zwangsarbeit einführen möchte. Deshalb sieht man, obwohl es 6 Millionen Hartz IV Empfänger gibt, in TV Sendungen des Privatfernsehens meist nur Arno Dübel.
Man appelliert nicht nur an die niedrigsten Instinkte im Menschen, man versucht diese mit allen Mitteln zu fördern. Dies ist deshalb brandgefährlich, weil sich wirklich eine schweigende Mehrheit recht leicht durch Medien manipulieren lässt. Ähnlich wie bei Goethes Zauberlehrling ist aber auch für Guido Westerwelle und seine Unterstützer nicht absehbar, welche Folgen deren „Zaubertricks“ langfristig haben wird.
Mit Zaubertrick meine ich z.B. das Verwischen von Grenzen zwischen bezahlter Arbeit und unbezahlter Arbeit. Es ist nachvollziehbar, wenn von Leistungsempfängern gefordert wird, alles zu tun die Bedürftigkeit zu beenden. Dies kann aber nur durch Annahme eines regulär bezahlten Arbeitsverhältnisses erreicht werden. Was Westerwelle dagegen fordert, unbezahlte Arbeit quasi als Gegenleistung für das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, ist in Wahrheit nichts anderes als Zwangsarbeit als Ersatz eines Sozialstaates und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Nicht mehr die Würde des Menschen wäre dann der Grund für soziales Verhalten, sondern die Arbeitskraft des Menschen.
Die Menschen, die wie Westerwelle sagt, jeden Tag früh aufstehen, müssten übrigens für Menschen in dieser Form von Zwangsarbeit nicht nur weiter voll aufkommen, sie müssten zusätzlich noch 500 Euro pro Monat für den Träger der Arbeitsgelegenheit finanzieren. Insofern diffamiert Westerwelle nicht nur die Leistungsempfänger, sondern betrügt mit seinen Aussagen auch die Menschen die „jeden Morgen früh aufstehen“
Übrigens: Es gibt auch Leistungsempfänger die jeden Morgen ganz früh aufstehen, ihren Kindern Frühstück machen, ihren Haushalt versorgen, ehrenamtlich tätig sind und auch sonst einen sehr organisierten Tagesablauf haben. Und die Ursache, warum dies in Einzelfällen nicht so ist, liegt nicht wirklich bei den Betroffenen.
Es grüßen Sie freundlich
Dietmar Brach, Erziehungswissenschaftler
Frank Krämer, Diplom-Betriebswirt
Hallo Blogger,
ich kann eventuelle Kritik an den Zeilen zum Thema Hartz 4 von Herrn Fädrich nicht nachvollziehen. Ohne Polemik und sehr sachlich hat er das Thema aufgegriffen und analysiert. Was viele nicht verstehen ist, dass der Punkt Selbstverantwortung jedes Einzelnen zu seiner eigenen persönlichen Entwicklung in der Öffentlichkeit nicht angesprochen wird. Alle Verantwortung wird auf die Gesellschaft abgeschoben. Das fängt in der Kindererziehung an und hört bei der Einstellung zur Gesundheit auf. Ich bin selbst Unternehmer und habe seit 5 Jahren einen kleinen Betrieb mit 10 Mitarbeitern und 3 Lehrlingen. Vor dieser Selbständigkeit war ich Angestellter und danach wie so viele Arbeitslos. Ich habe mir aber geschworen, dass mich niemand mehr entlässt. Das geht aber nur wenn man sich selbständig macht- und das mit allen Vor-und Nachteilen. Warum also nicht auch Minijobs in Selbständigkeit ( Schuhputzer, Haushalthilfen usw.).
Ich habe 7 Jahre gebraucht um heute sagen zu können, dass ich es geschafft habe. 7 Jahre ,in denen ich nicht jeden Monat einen Verdienst nachweisen konnte. Und Sozialhilfe wollte ich nicht annehmen. Ich kann beim besten Willen das ewige Gejammer nicht mehr hören. Wir Deutschen sind wahrscheinlich die Einzigen, die im Gehirn einen zusätzlichen Bereich, den Jammerlappen, haben. Lasst uns doch wie Herr Frädrich schon sagte, eine neue Qualität in der Herangehensweise der Diskussion in Bezug auf soziale Gerechtigkeit einschlagen. Es täte allen gut.
Übrigens: Mein Fernseher ist 18 Jahre alt und ist der einzige im ganzen Haus. Statt sich den Schei… der Programme reinzuziehen, empfehle ich z.B. ein Seminar bei Herrn Frädrich.
Herr Frädrich, Erfurt am 23.03. war klasse. Weiter so.
Jochen Greiling
Dipl.Ing.,
Es hat sich doch in den letzten 18 Monaten deutlich herausgestellt, dass Westerwelle nicht das Format hat, ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland als Außenamtschef zu repräsentieren. Allerdings auch innenpolitisch hat er sich durch seine Hartz4-Aussagen disqualifiziert. Als Staatsbürger dieses Landes neigt man bereits zum Fremdschämen für unseren Außenminister. Die Fragestellung ist nur, wann erlöst uns Westerwelle und tritt zurück?