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Wann es feige ist, feige zu sein (und wann nicht) 

 August 6, 2015

Von  Dr. Stefan Fraedrich

Liebe Schweinehundefreunde,

ich finde ja, es ist nichts dabei, „feige“ zu sein: wenn uns ein betrunkener Autofahrer chauffiert, wir unser gesamtes Vermögen auf eine einzige Aktie setzen oder wir in den Eisbärkäfig klettern, um mit Knut zu kuscheln. Hier gilt: hohes Risiko! Mag sein, alles geht gut aus. Aber was, wenn nicht? Dann hätten wir gute Chancen auf einen „Darwin-Award“ wegen Dämlichkeit. Besser also, wir kneifen. 

Einsatz verdoppeln?

Was aber ist ein Feigling? Einer, der so gut wie immer feige ist – und zwar selbst bei überschaubaren Gefahren.

Wenn Sie Backgammon spielen, kennen Sie die Funktion des Doppel-Würfels: Sobald sich ein Spieler im Vorteil wähnt, kann er seinem Gegner anbieten, um den doppelten Einsatz zu spielen – also etwa um zwei Punkte statt um einen. Nimmt der Gegner nun an, riskiert er wahrscheinlich einen doppelten Verlust – schließlich liegt er im Spiel zurück. Lehnt er hingegen ab, verliert er sofort – und zwar nur den einfachen Punktwert.

Na, wie würden Sie reagieren, wenn Sie zurückliegen? Alles hinwerfen? Lieber gleich einfach verlieren als den doppelten Verlust riskieren? Schade! Denn: Immerhin können Sie noch gewinnen – vor allem wenn der Doppel-Würfel sehr früh im Spiel zum Einsatz kommt, ist noch alles drin!

Rechnen wir mal: Angenommen, Ihr Gegenspieler doppelt, sobald er schätzt, dass die Gewinnchancen 70:30 für ihn stehen, und Sie nehmen den Doppel an. Dann verlieren Sie in zehn Partien 7 mal 2 Punkte, also 14 Punkte. 6 Punkte aber gewinnen Sie! Immerhin 30 Prozent aller Spiele, also 3 Siege mit je 2 Punkten. Und unterm Strich kommt dabei ein Verlust von 8 Punkten heraus (6 gewonnene minus 14 verlorene). Schade, schade. Aber: Lehnen Sie den Doppel-Würfel hingegen jedes Mal ab und geben sofort auf, verlieren Sie alle 10 Partien einfach – und somit ganze 10 Punkte! Sie bringen sich also um zwei Siegespunkte.

Arme „Feiglinge“!

Es scheint also so, als hätte ein „Feigling“ schlechtere Karten: Er vermeidet Risiken und verliert deswegen nicht nur häufiger, er verliert auch mehr Punkte. Außerdem gewinnt er nicht.

Apropos gewinnen: Drehen wir die Betrachtung einmal um! Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Wahl, entweder mit 80-prozentiger Sicherheit 1.000 Euro zu gewinnen oder mit 100-prozentiger Sicherheit nur 700 Euro. Wie würden Sie sich entscheiden?

Wohl die meisten würden hier spontan die sicheren 700 Euro nehmen – schließlich ginge man leer aus, wenn man das Pech hätte, zu den 20 Prozent Verlierern zu gehören. Aber: Auch hier ist die „feige“ Entscheidung statistisch betrachtet falsch: Denn diejenigen, die die unsichere Variante wählen, gewinnen im Schnitt 800 Euro – also 100 Euro mehr als die vermeintlichen Feiglinge!

Am besten fahren wir also, wenn wir uns an der höchsten Gewinnwahrscheinlichkeit orientieren und Verluste gut wegstecken können – denn immer gewinnen geht halt nicht.

Durst in der Wüste

Warum aber neigen wir so häufig zur „Feigheit“? Weil unser Gehirn („Günter“) in erster Linie unser Überleben sichern will – und dafür reagiert es kurzfristig auf Gefühle: weg vom momentan Unangenehmen, hin zum Angenehmen. Statistik ist dem Gehirn dabei egal. Langfristigkeit auch.

Stellen Sie sich mal vor, Sie wandern durch die Wüste und haben einen riesigen Durst. Plötzlich treffen Sie auf einen anderen Wanderer, der Ihnen ein paar Schluck aus seiner Wasserflasche anbietet. Es wäre nun wahrlich bescheuert, die Flasche abzulehnen, nur weil in fünf Kilometern die nächste Oase auf Sie wartet! Also: Belohnung? Klar: sofort und mit 100-prozentiger Sicherheit! Egal, ob später mehr und vielleicht bessere Drinks auf Sie warten.

Bomben im Stadion

Natürlich ist die Situation nicht vergleichbar – der Einsatz in der Wüste ist schließlich ungleich höher: Es geht um unser Leben. Also scheinen wir immer dann gut beraten zu sein, den langweiligen Spatz in der Hand zu wählen, wenn es um besonders viel geht.

Würden Sie zum Beispiel zu einem Fußballspiel ins Berliner Olympiastadion gehen, wenn Sie wüssten, dass bei jedem Spiel irgendwo eine Bombe hochgeht, bei der vier Menschen getötet werden? Vermutlich nicht, Sie sind ja nicht bescheuert. Das Spiel sollen sich lieber andere angucken! Und schon gar nicht, wenn wir die Wahrscheinlichkeit erhöhen, von der Bombe erwischt zu werden – sagen wir mal, indem wir 525 Leute wegbomben. Bei jedem Spiel wohlgemerkt.

Sie fragen sich, was das soll? Nun: Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 3.000 Menschen am Passivrauchen. Bei großzügig geschätzten 60 Millionen Nichtrauchern ist das ein Anteil von 0,005 Prozent, was etwa 4 Personen (3,75 um genauer zu sein) in einem 75.000 Leute fassenden Stadion entspricht. Ach, und wir meckern über das Rauchverbot in Gaststätten? Als Raucher würde man sich über solchen Zahlenkleinkram totlachen?

Richtig: 140.000 Zigaretten-Tote gibt es jedes Jahr unter Rauchern zu beklagen, was bei ungefähr 20 Millionen Rauchern (die Ex-Raucher mal nicht mitgerechnet) einem Anteil von 0,7 Prozent entspricht – oder eben 525 Toten in einem 75.000 Leute fassenden Stadion. Bei jedem Spiel – und Sie haben eine Dauerkarte …

Sicherheit im Hier und Jetzt

Wie gesagt: Wahrscheinlichkeiten sind unserem Gehirn egal. Es zählt nur die vermeintliche Sicherheit des Hier und Jetzt. Rauchen aufhören? Verlustgefahr! Also: rauchen, so wie immer. Die Folgen: kurzzeitig Erleichterung, langfristig Aua. Mal eine neue Herausforderung angehen und sich freiwillig verändern? Verlust des Gewohnten möglich – lieber nicht! Sollen die anderen die Chancen ergreifen. In die Selbständigkeit investieren bei guten Gewinnchancen? Was aber, wenn es nicht klappt? Besser abwarten, bis alles wirklich sicher ist – und sich unsere Mitbewerber das größte Stück vom Kuchen geschnappt haben. Sie sehen: eigentlich ganz logisch unser „Günter“! Schließlich will er, dass es uns gut geht. Kluge „Feiglinge“!

Wie aber geht es uns noch besser? Indem wir den Tatsachen ins Auge sehen: Oft tun wir besser daran, Risiken in Kauf zu nehmen und etwas zu wagen, uns zu verändern und nicht so sehr an unseren kurzfristigen Gefühlen zu kleben, als immer den vermeintlich sicheren Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Vor allem wenn wir durchaus realistische Gewinnchancen haben und das Risiko überschaubar bleibt.

Voraussetzung natürlich aber: Im Falle eines Verlustes darf keine (lebens)bedrohliche Situation für uns entstehen! Nein, wir sollten also nicht unser gesamtes Geld beim Roulette auf nur eine Farbe setzen. Und wir hoffen, dass der Pilot vor unserem Flug in den Urlaub auch jedes Mal alle Instrumente checkt. (Auch wenn wir gerne mal unsere ganze Karriere bequem an einen einzigen Arbeitgeber knüpfen und im Auto mitunter den TÜV verpennen …) Denn je höher das Risiko, desto egaler wird die Wahrscheinlichkeit: Wenn es uns erwischt, sieht es düster aus – selbst wenn es uns nur ganz selten erwischt.

Wie traurig das ausgehen kann, zeigt sich hin und wieder, wenn Menschen ohne wirkliche Sicherheiten hohe Fehlspekulationen tätigen – und plötzlich vor einem scheinbar nicht zu bewältigenden Scherbenhaufen stehen. Wäre also ein „gesundes“ Maß an „Feigheit“ beim Spekulieren vorher besser gewesen? Es scheint so.

Mögliche Lösung: nachdenken und abwarten

Also: zocken? 

  • Niemals, wenn das Risiko nicht weit genug gestreut und der Einsatz alles ist, was man hat!
  • Andererseits: Warum nicht, wenn verlockende Gewinne winken und wir den Einsatz als Spielgeld betrachten können?

Deshalb: Auf welche Erfolgsfaktoren läuft all das hinaus? Zunächst auf eine gewisse Portion abstraktes Denkvermögen. Wir sollten nicht jedem Impuls blind folgen und uns auf unsere unfehlbare Intuition berufen. Ab und zu empfiehlt es sich, nachzudenken.

Und es ist wichtig, Belohnungen aufschieben zu können und nicht immer sofortige Bedürfnisbefriedigung zu erwarten – denn morgen sind Befriedigungen oft noch schöner!

Malediven trotz Tsunami-Gefahr

Ich selbst bin übrigens auch nicht frei von „Feigheit“. Als wir für unseren Silvesterurlaub zum mal die Malediven aussuchten, geisterten mir nicht nur die Begriffe „Palmen“, „Sonne“, „blaues Meer“ und „Tauchen“ durch den Kopf, sondern vor allem auch der Begriff „Tsunami“! Immerhin waren am 26. Dezember 2004 auch die Malediven von einer der schlimmsten Tsunamikatastrophen der Geschichte betroffen gewesen.

Sie denken sich nun womöglich: „Na der hat Probleme! Will auf die Malediven und macht einen auf Mitleid?“ Doch ganz im Ernst: Als ehemaliger Möchtegern-Rechtsmediziner (ja, lange Zeit wollte ich einmal ein „Quincy“ werden – ein paar Wochen Praktikum in der Berliner Rechtsmedizin reichten allerdings aus, um diesen Wunsch wieder zu zerstreuen …) assoziiere mit dem indischen Ozean genauso schnell „Tsunami-Opfer“ wie „Strandurlaub“ – tatsächlich habe ich noch etliche sehr realistische Erinnerungen an Menschen im Kopf, die ertrunken waren. Der Tod durch Ertrinken gehört für mich somit jederzeit in den Bereich realistischer Möglichkeiten. Gebrannte Kinder scheuen eben das Feuer.

Aber: Ich WOLLTE doch unbedingt auf die Malediven! Also half wieder der Stadionvergleich: 2004 starben von den 300.000 Einwohnern der Malediven durch den Tsunami etwa 100. Das ergab 0,0333 Prozent und somit 25 Bombenopfer im 75.000-Leute-Stadion – keine Chance, ich würde zuhause bleiben! Naja, zumindest ließ ich mir sehr viel Zeit mit der Bezahlung und schloss ausnahmsweise mal eine Reiserücktrittsversicherung ab …

Geholfen hat letztlich die Überlegung, dass so ein schlimmer Tsunami nur alle paar Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vorkommt. Und wann, das weiß letztlich keiner. Also gehen wir mal davon aus, die Bombe ginge nur in jedem 25. Spiel hoch (alle 25 Jahre, was hoffentlich nicht vorkommen wird), sind wir schon bei „nur“ einem einzigen Opfer pro Spiel – und dieses Risiko wiederum würde ich durchaus eingehen! So als echter Fußballfan.

Außerdem hatte ich ja die Möglichkeit, mich zu informieren, was im Falle eines Falles zu tun sei: irgendwo festhalten, auf Dächer klettern und ähnliches. Sprich: Das Risiko wurde durch nachdenken bewusst und erschien durch weitere Informationen begrenzbar. Es ist demnach um das Vierfache wahrscheinlicher, am Passiv-Rauchen zu sterben als durch eine Monsterwelle!

Oder wollte ich den Urlaub einfach zu sehr? Rationalisiere ich hier nur? Naja, egal: Ich muss Ihnen wohl nicht verraten, wo wir unseren Silvesterurlaub verbrachten – es war traumhaft! Und wir würden jederzeit wieder hinfliegen.

Feigheit? Mut? Es kommt drauf an!

Also, was bleibt? Wir haben immer noch keine Ahnung, was die Zukunft für uns bringt. Aber – vor Entscheidungen gestellt – können wir nun einen groben Algorithmus herleiten:

  • Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge für uns ausgehen, sollten wir – erstens – unsere Chancen so realistisch wie möglich einschätzen! Oft steht es gar nicht so schlecht um unsere Gewinnwahrscheinlichkeit.
  • Zweitens: Machen wir uns klar, welche Risiken wir mit jeder möglichen Entscheidung eingehen!
  • Oft droht uns schließlich der größte Verlust, wenn wir überhaupt kein Risiko eingehen. Ist der Einsatz also überschaubar, spricht nichts gegen ein wenig Mut – denken wir lieber optimistisch und langfristig!
  • Aber drittens: Je größer unser Einsatz wird, desto eher wird Risiko zur Dummheit – vor allem bei schlechten Chancen. In diesem Falle: Finger weg! Wir sind ja nicht blöde.

Na, wie sieht es nun mit Ihnen aus? Sind Sie ein „Feigling“? Ich jedenfalls nehme mir die Freiheit auch in Zukunft hin und wieder einer zu sein. So wie ich ebenfalls in Zukunft immer wieder gewagte Projekte beginnen werde.

Und zwar beides zu Recht. Es kommt eben drauf an.

Herzliche Schweinehundegrüße

Ihr

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