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Du Außenseiter! 

 Juni 9, 2014

Von  Dr. Stefan Fraedrich

Liebe Schweinehundefreunde,

kennen Sie „Dexter“, meine Lieblings-TV-Serie?

Der Plot ist ziemlich speziell: Dexter Morgan ist Blutspurenanalyst bei der Mordkommission – und selbst ein Serienmörder. Als Psychopath hat er den unstillbaren Drang zu töten, kanalisiert ihn jedoch in eine quasi sozialverträgliche Richtung: Er bringt ausschließlich psychopathische Mörder um. Dabei handelt er gemäß einem moralischen Kodex, den ihn sein Vater gelehrt hat. Der war ebenfalls Polizist und wollte seinem Sohnemann so helfen, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Denn als Psychopath hat Dexter eigentlich keine Gefühle.

Dexter, der sympathische Mörder

Und beim Wörtchen „eigentlich“ beginnt die Sache spannend zu werden: Obwohl Dexter als gefühlsbehinderter Killer nicht unbedingt als Idealbesetzung für einen Sympathieträger taugt, solidarisiert man sich als Zuschauer mit ihm, und zwar widerstands- und bedingungslos. Denn im Kern erzählt „Dexter“ in acht fantastischen Staffeln die Geschichte eines Außenseiters, der sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft sucht – und findet.

Er versteckt sein wahres Ich und tut so, als sei er „normal“, was ihm, obwohl er oft ziemlich schräg wirkt, immer besser gelingt: Er ist gut im Job, beliebt bei den Kollegen und gründet sogar eine Familie. Andererseits muss er ausleben, was in ihm ist: Er braucht sehr viel Zeit für sich alleine (unter anderem um seine Opfer zu finden), und er muss töten, um psychologisch zu überleben. So entsteht ein komplex ausbalanciertes Leben aus Täuschung und Tarnung, das mit der Zeit zu seiner zweiten Natur wird: Familie, Freunde, Liebe werden für den seltsamen Einzelgänger *echt*, obwohl sie zunächst nur Fassade waren. Er verteidigt sie bedingungslos gegen alle Gefahren, die sein dunkles Lebensumfeld mit sich bringt. Und aus dem kalten Psychopathen wird ein Mensch – mit etwas das richtigen Gefühlen ziemlich nahe kommt.

Was hat diese Story in meinem Blog zu suchen? Nun, mir ist aufgefallen, dass die Serie ganz besonders hingebungsvolle Fans hat. Ich kenne keinen einzigen Dexter-Gucker, der ihr nicht genau so bedingungslos verfallen ist, wie Dexter seinen Ritualmorden. Und ich frage mich, ob das nicht genau mit dem Motiv des Außenseiters zu tun hat: Ist es möglich, dass wir uns alle gerne mit einem Außenseiter solidarisieren, weil wir uns im Kern oft selbst als Außenseiter sehen (oder lebensphasenweise gesehen haben) und eine Figur wie Dexter somit als perfekte Projektionsfläche taugt? Sind wir nicht alle irgendwie seltsame Typen, die sich und ihren Platz im Leben suchen, finden und erschaffen müssen?

Sollte das der Fall sein, folgen daraus vier Überlegungen, die ich hier unbedingt mit Ihnen teilen möchte:

1. Wir sind alle anders – und deshalb alle gleich

Menschen sind Individuen. Wirklich keiner ist genau so wie der andere. Wir alle sind groß, klein, männlich, weiblich (je in unterschiedlicher Ausprägung), jung, mittelalt, steinalt, reich, arm, dumm, schlau, kennen unsere Lebensziele, oder kennen sie nicht, sprechen Dialekt, können gut Fußballspielen, oder zuhören, oder analysieren, haben Pickel, oder schiefe Zehen, oder kennen uns gut mit Hydraulik aus, oder mit Kindererziehung, oder leben in unserer Geburtsstadt, sind zig Mal umgezogen – und so weiter. Streng genommen sind wir also bezogen auf irgendeine Merkmalkombination ALLE Außenseiter – und nehmen uns entsprechend wahr: „Ganz normal bist du nicht …“

Wenn aber alle Außenseiter sind, ist keiner Außenseiter. Vielmehr sind wir alle gleich darin, aus unseren Mitteln machen zu müssen, was wir können und sollten uns darum nicht als Opfer unserer Umstände fühlen. Zum Glück gilt diese Sichtweise heute immer mehr als gesunder Menschenverstand. Und so manche Organisationen erscheinen bizarr, die einzelne Merkmale von Menschen als besonders schützens- und verteidigenswert inszenieren: Frauenbewegung, Gewerkschaften, Künstlersozialkasse. Tenor stets: „Unser Klientel hat es besonders schwer, also braucht es Unterstützung.“

Blödsinn! Wie wäre es mit einer Männerbewegung? Einem Frisörinnen-Hilfsfonds mit Pflichteinzahlung bei jedem Scherenkauf in der Drogerie? Einer Vereinigung der Blondbehaarten? Und wo wir gerade dabei sind, beantrage ich hiermit einen Schutzverein für auf dem Land aufgewachsene Erstgeborene mit musisch-rhetorischer Begabung und Schwächen beim Fußballspiel! Wenn ich an all die Schwierigkeiten zurückdenke, denen ich seit meiner Grundschulzeit ausgesetzt war, fange ich immer noch zu weinen an …

2. Wir müssen werden, wer wir sind

Fühlt sich jemand auf den Schlips getreten? Finden Sie ungerecht, was ich schreibe? Täte mir leid. Vor allem um das Opfer, das nicht versteht, dass genau in der Unterschiedlichkeit unser Platz im Leben ist. Betrachten wir nochmal Dexter: Als gefühlsgestörter Serienmörder ist er der Prototyp eines Außenseiters. Dennoch kann er eine normale Existenz führen – wenn er tut, was er tun muss. Sobald er seinen Drang zu töten (er nennt ihn seinen „dunklen Begleiter“) ignoriert, wird Dexter zum Opfer: Er wird nervös, denkt und handelt unlogisch, leidet. Und natürlich verflucht er, wer und was er ist. Tötet er endlich, ist psychologisch wieder alles okay.

Ich denke, wir alle müssen werden, wer wir sind, um uns psychologisch okay zu fühlen. Verbiegen wir uns, weichen wir unserem Blick im Spiegel aus, behindern wir uns selbst. Auch wenn wir uns manchmal einreden, es sei andersherum: „Alles könnte so schön sein, wenn ich normal wäre!“

Doch erst wenn der Außenseiter tut, was er tun muss, findet er seinen Platz und wird normal. Erst wenn der Künstler zeichnet, fühlt er sich normal. So wie der Buchhalter, der Ordnung in Zahlen bringen muss. Tauschen beide die Rollen, wird es problematisch.

3. Es geht nicht um uns, wenn es um uns geht

Leben wir also in einer egoistischen Welt, in der wir unter Missachtung der Bedürfnisse anderer asozial handeln dürfen und sollten? Im Gegenteil: Unsere Stärke als Gesellschaft liegt genau in unserer individuellen Unterschiedlichkeit! Leben wir diese (innerhalb sozialverträglicher Grenzen) aus, helfen wir uns gegenseitig: Der/die eine programmiert Smartphone-Apps, die/der andere arbeitet in der Pflege, ein(e) Dritte(r) verhaftet böse Kriminelle. Und Dexter bringt eben die um, die nicht verhaftet werden. Alles ist gut.

In dieser Konstellation aber geht es nicht um uns selbst, wenn es um uns geht. Es geht um uns alle! Denn wenn wir machen, was wir müssen und können, werden wir wertvoll. Der Egoismus wird zum Altruismis. Egal, aus welchen Motiven. Sogar Dexter findet seinen Platz in der Welt – und wir sind froh darüber.

Wer nicht aus sich macht, was in ihm/ihr steckt, betrügt sich nicht nur selbst, sondern alle anderen auch. Er/sie fühlt sich als Opfer und ist dabei eigentlich Täter. Pervers, oder?

4. Wir müssen uns nicht finden, sondern erschaffen

Unseren Platz in der Welt bekommen wir nur selten geschenkt. Wir müssen ihn uns suchen, ihn uns erarbeiten. Nur wenigen ist es vergönnt, von Geburt an in einem kuscheligen Setting voller wohlmeinender Entwicklungswegweiser heranzuwachsen und bequem ans perfekte Ziel zu gelangen. Im Gegenteil: Die besten Lebensgeschichten haben Höhen UND Tiefen, Erfolge UND Misserfolge. Sie sind verwickelt statt linear. Und genau deswegen sind sie besonders. Sie sind Individuen wie wir.

Also dürfen wir uns wegen unserer „Andersartigkeit“ nicht bemitleiden! Unser eigenes Wohl steht nicht im Mittelpunkt des Universums. Meist haben wir es TROTZ aller Widrigkeiten bis heute ganz gut hinbekommen, oder? Und nie hat uns jemand versprochen, es sei alles einfach. Also: Schluss mit dem Gejammer! Bei uns ist nicht alles anders und besonders schwierig und unfair! Mama und Papa haben uns durch die ersten Jahre gekriegt – danke dafür! Danach aber liegt es an uns selbst, wie wir uns durch die restlichen Jahre bekommen. Unsere Aufgabe. Unsere Verantwortung. Unsere Pflicht. Und unsere Chance.

Wichtig dabei: Um diesen unseren Weg zu gehen, müssen wir uns nicht erst finden, wie man gerne sagt: „Wer bin ich nur? Erst wenn ich das weiß, kann ich mich bewegen.“ Nein, wir müssen uns aktiv erschaffen! Tag für Tag, jahre-, jahrzehntelang. Erst wenn wir unseren Weg gehen, uns erproben, dabei scheitern und lernen, entwickeln wir unsere Fähigkeiten und finden heraus, wer wir sein müssen. Dabei erschaffen wir unsere ganz eigene Welt, innerhalb derer wir einen festen Platz bekommen – und uns nie mehr verloren fühlen.

Obwohl wir alle immer Außenseiter bleiben werden. Und genau deswegen Dexter mögen.

Haben Sie einen schönen Juni!

Herzliche Schweinehundegrüße

Ihr

Dr. Stefan Frädrich

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